Warum fällt es uns schwer, Hilfe anzubieten?

Helfen macht glücklich. Engagieren wir uns sozial und helfen anderen, dann kann das unseren Selbstwert steigern, das Gefühl von Dankbarkeit, Anerkennung und Verbundenheit stärken. 

In manchen Situationen hält uns trotzdem etwas zurück unsere Hilfe anzubieten. Oft kann die Anwesenheit anderer Personen dazu beitragen, dass wir uns gehemmt fühlen. Wenn zum Beispiel ein älterer Mann auf der Straße stürzt und mehrere Menschen anwesend sind, sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass wir dem Mann aufhelfen oder den Krankenwagen rufen, falls er verletzt ist. Dieses Phänomen wird in der Sozialpsychologie als Bystander- oder auch Zuschauer-Effekt bezeichnet. 

Der Bystander-Effekt

Der Bystander-Effekt beschreibt ein sozialpsychologisches Phänomen, welches besagt: Je mehr Menschen in einer potenziellen Hilfesituation anwesend sind, desto unwahrscheinlicher ist es, dass der*die Einzelne hilft. Die Theorie nennt unterschiedliche Gründe, warum die Wahrscheinlichkeit sinkt, dass wir helfen: 

Verantwortungsdiffusion

Je mehr andere Menschen anwesend sind, desto geringer ist die eigene wahrgenommene Verantwortung. Wir als potenzielle Helfende denken uns dann vielleicht:

 „Es sind ja auch genug andere potenzielle Helfende da, warum sollte gerade ich helfen?“ 

Wir weisen die Verantwortung bewusst oder unbewusst von uns und beruhigen uns mit dem Gedanken, dass auch die anderen Beobachtenden in einer wirklichen Notsituation eingreifen könnten (soziale Erleichterung). Verantwortungsdiffusion kann es auch in weniger bedrohlichen Situationen geben.  Zum Beispiel wenn in der Zwopr-App erst spät auf ein Hilfegesuch reagiert wird. Hier kann es sein, dass der*die Einzelne Verantwortung von sich weist, weil wir davon ausgehen, dass schon jemand anderes helfen wird. Online ist dies zumeist noch einfacher, da wir eher anonym bleiben und uns somit niemand als Nichthelfender entlarven kann. Selbes gilt auch für ganz alltägliche Situationen wie auf eine Frage in einer WhatsApp-Gruppe zu antworten. Wer kennt es nicht: Wir lesen die Frage und denken uns: „Ach, das beantworte ich später. Bis dahin hat sich sicher sowieso schon jemand anderes  gemeldet.” 

Ambiguität der Situation

Oft können wir nicht genau abschätzen, ob wirklich Hilfe benötigt wird oder wie dringend eine Hilfeleistung gerade ist. Wenn wir unsere Hilfe anbieten, befürchten wir, dass wir uns blamieren und von den übrigen Anwesenden negativ bewertet werden, weil es überhaupt keine Hilfesituation sein könnte. Steigt zum Beispiel eine ältere Person in den Bus ein, wollen wir ihr zwar gerne einen Platz anbieten, aber oft ist nicht ganz klar, ob sie diese Hilfe wirklich braucht. Wir wollen der Person ja auch nicht unterstellen, dass sie nicht mehr fit genug sei. Also schauen wir dann beschäftigt auf unser Smartphone und hoffen, dass jemand anderes fragt. Ambiguität fördert also auch Verantwortungsdiffusion. 

Pluralistische Ignoranz

Vor allem in Situationen, in denen wir ratlos oder unsicher sind, orientieren wir uns an anderen, um herauszufinden was zu tun ist (informativer sozialer Einfluss). Wenn es den anderen aber genauso geht wie uns, sehen wir eher Zurückhaltung und Passivität. Es kommt zur pluralistischen Ignoranz, da wir diese allgemeine Zurückhaltung als scheinbare Gleichgültigkeit interpretieren und so die Ernsthaftigkeit der Situation mit Gedanken wie „Es wird schon nicht so schlimm sein.“ oder „Die anderen helfen auch nicht, wahrscheinlich ist es gar kein Notfall.“ herunterspielen. 

Experimente zum Bystander-Effekt

In einem bekannten Experiment von Latané und Darley (1968) wurden Teilnehmende gebeten, in einem Raum alleine Platz zu nehmen und einige Fragebögen auszufüllen. Nach einiger Zeit zog Rauch (eigentlich war es Dampf) durch einen kleinen Lüftungsschacht in den Raum. Innerhalb der ersten zwei Minuten handelten 50% der Teilnehmenden, innerhalb zehn Minuten verließen 75% den Raum. In einer zweiten Bedingung saßen die Teilnehmenden zu dritt im Raum und füllten die Fragebögen aus. Auch hier zog wieder Rauch in das Zimmer. 62% der Teilnehmenden blieben sitzen und arbeiteten weiter an den Fragebögen bis das Experiment zu Ende war. Auf Nachfragen berichteten die Teilnehmenden, dass sie darauf geachtet haben, ob die Übrigen im Raum Zeichen von Ängstlichkeit oder Beunruhigung zeigten. Da sie allerdings ruhig wirkten, blieben sie auch sitzen. Das Experiment zeigt also ein Beispiel für pluralistische Ignoranz. 

Unser Verhalten in Gruppen lässt sich nicht komplett auf den Bystander-Effekt zurückführen

Da unser Verhalten in Gruppen von vielen situativen Faktoren abhängig ist, heißt es nicht zwangsläufig, dass Menschen in Anwesenheit anderer nicht helfen. Es gibt auch Forschung die zeigt, dass der Ort des Geschehens eine Rolle spielt. Auf dem Land beispielsweise helfen mehr Leute in Notsituationen als in Großstädten. Wir können diese Ergebnisse also nicht pauschal auf alles und jede*n anwenden. 

Trotzdem gibt es ein paar Impulse, denen wir uns bewusst werden können, um unser eigenes Hilfeverhalten wahrscheinlicher zu machen. 

Was kann helfen, unsere eigene Hilfsbereitschaft zu fördern? 

  • Wahrnehmen, dass wir gerade ein*e Zuschauer*in sein könnten und dann Eigenverantwortung übernehmen.
  • Direktes Ansprechen: Um sich Verbündete zu suchen, hilft es eine Person aus der Menge direkt anzusprechen und diese aus ihrer Anonymität zu holen. „Sie im roten T-Shirt, könnten Sie bitte mit mir zusammen den Mann im Rollstuhl die Stufen heruntertragen?”
  • Indirekte Hilfe: Trauen wir uns nicht oder können wir selbst nicht helfen, ist es wichtig, die Situation nicht einfach zu ignorieren. Es gibt immer Möglichkeiten auch indirekt zu helfen, zum Beispiel indem wir bei einem Unfall, die Feuerwehr oder einen Krankenwagen rufen. Natürlich kann es auch hier helfen, eine andere Person anzusprechen, denn gemeinsam ist es oft einfacher, aktiv zu werden. So würde auch die pluralistische Ignoranz gemindert werden.
  • Zivilcourage können wir lernen. Es gibt auch Kompetenzschulungen wie Selbstverteidigung oder Anti-Gewalt-Trainings, damit wir uns in potentiellen Not- oder Hilfesituationen selbstsicherer und vorbereitet fühlen.  

Mit Zwopr Hilfsbereitschaft alltagstauglich machen

Gerade in der Erforschung des Bystander-Effekts geht es überwiegend um extreme Situationen wie Unfälle, Brände oder Verletzungen. Doch auch in weniger krassen Situationen, ist es wichtig die Augen offen zu halten und hilfsbereit durch die Welt zu gehen. Gerade in Alltagssituationen wie einen Sitzplatz im Bus frei zu machen oder einer Person die schweren Einkäufe hochzutragen gibt es ein hohes Potenzial der Verantwortungsdiffusion und der pluralistischen Ignoranz. Da die möglichen Konsequenzen des Nichthandelns so gering erscheinen, ist es noch einfacher sich zu sagen: „Ach, wird schon passen.” 

Wenn wir uns in manchen Hilfesituationen gehemmt fühlen, ist das also absolut menschlich. Es hilft auf jeden Fall, dass wir uns bewusst werden, woran das liegen könnte. Und wer weiß: Vielleicht denken wir ja beim nächsten WhatsApp-Gruppenchat daran zurück und antworten direkt. 

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Quellen 

Emeghara, U. (2020, Sept 24). Bystander effect and diffusion of responsibility. Simply Psychology. https://www.simplypsychology.org/bystander-effect.html 

Latane, B., & Darley, J. M. (1968). Group inhibition of bystander intervention in emergencies. Journal of Personality and Social Psychology, 10, 215–221. https://doi.org/10.1037/h0026570 

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